Zu guter Letzt, Staunen, Vergnügen und Leben.

Zu guter Letzt eine Dernière zu erwischen, noch dazu im ferneren Basel, verspricht nicht per se einen guten Ausgang. Es gab derer aber nicht nur einen, sondern unzählige. Dazu muss ich anmerken, dass ich Geschichten liebe, die nicht in Selbstverständlichkeit von der Dunkelheit ins Licht führen, sondern einen Raum voll von Ereignissen aufschlagen, die mehr hinters als ins Licht führen, aber auch auf letzteres nicht verzichten.

Ich rede von „Vergeigt“, einer Oper von Regisseur Herbert Fritsch, dem Geigerinnenereignis Patricia Kopatschinskaja und dem bildenden Jannis Varelas am Theater Basel. Eins vorweg: Es ist kein Starstück um Kopatschinskaja, sondern ein Ensemblestück mit 8 Schauspieler:innen und Musiker:innen. Es gibt keine Hierarchie, nur die der Anarchie auf Augenhöhe (wer hat behauptet, dass Anarchie keine Hierarchie kennt? Die Ebene kennt auch eine!) die das Publikum einschließt. 90 Minuten entwickeln sich Szenen, die präzise ins Offene führen.

In der Ankündigung ist von „choreografierter Sinnfreiheit“ die Rede! Ja, diese Oper hat die Freiheit im Sinn. (Es wird Menschen geben, deren Wahrnehmungsdetektor auf „Sinnbefreitheit“ anschlägt, aber dies ist ein Kalibrierungsfehler!) Kopatschinskaja arbeitet sich in der Initialszene – akrobatisch von der Bogen- bis zur Nasenspitze – an einer Schattenvirtuosität ab, ohne einen „normalen“ Ton zu spielen. Worauf die gesamte Spezialeinheit, mit Betonung auf Spezial und Einheit, mit ihren Blechkoffern unterwegs ist. Sie eröffnet Wege im Gehen, schafft Begegnungen und sorgt für Stockungen – und setzt getimte Blechorgelpunkte, die nie liegen bleiben, aber die einen die Ohren spitzen und die Trommelfelle empfangsbereit werden lassen. Eine Riesenklarinettenschlange wird zur Rohrpost für einen imaginären Ball, der im Himmel verschwindet.

Diese Oper – diese Gattungsverortung verschreibt pure Medizin für sie selbst – hebt die Schwerkraft auf, hier ein Chor, der zur bewegten Skultpur wird, etwas Bartók, wenig Beethoven, aber die benennbare Musik bleibt im Hintergrund, um zu erzählen, dass es ums Lauschen, ums Schauen – welche Bilder! –, ums Leben geht. Und dass gekonntes, in höchster Präzision versuchtes Scheitern mindestens so glückhaft sein kann, es geht ums Gelingen, Dranbleiben und sich fürs Leben und die Musik virtuos machen.

Was für ein Vergnügen mit Patricia Kopatschinskaja, Reto Bieri, Wolfram Koch, Annika Meier, Christopher Nell, Jasin Rammal-Rykala, Carol Schuler und Hubert Wild!

„Wer staunt, liegt niemals falsch, denn es gibt kein falsches Staunen im richtigen Leben.“, darf ich mich selbst und mein „Spiel“ zitieren. Dieses Stück kennt das richtige Leben und erinnert, dass es kein falsches gibt. Wenn, dann nur ein ungelebtes. Ein Ereignis, das ich sofort wieder erleben möchte, aber zu guter Letzt habe ich es geschafft.

Theater Basel, 16. Juni 2023
Foto: Andrea Trawöger