Vom Ungehorsam am Gehörten

Kein Versuch eines Nachrufs für Nikolaus Harnoncourt. (1929–2016)

Erschienen in: Kulturbericht OÖ 4/2016

Die weltweite Fülle, Vielfalt und Intensität der Nachrufe auf Nikolaus Harnoncourt zeigt einmal mehr seine unüberhörbare Wirksamkeit. Doch kaum eine Nachrufende, ein Nachrufender bekommt den Umfassenden wirklich zu fassen, sondern berichtet viel mehr über die Spuren, die er an ihr, in ihm hinterlassen hat. Lassen Sie auch mich am Fassen dieses Phänomens scheitern. Und wenn ich Harnoncourt hier als Phänomen festschreibe, liege ich gleich zu Beginn meiner Annäherungen falsch, war er doch alles andere als flüchtig, ein Aggregatzustand, der Phänomenen aber gemein ist. Fest steht: Kein anderer Mensch hat nicht nur die Musikwelt so unverzagt in Atem gehalten, wie der 1929 in Berlin geborene österreichische Musiker.

„Jemand, der weiß, dass er widersprechen kann, weiß auch, dass er gewissermaßen zustimmt, wenn er nicht widerspricht“, lese ich bei Hannah Arendt und denke an Harnoncourt. Im „Ungehorsam“ steckt das Hören drinnen. Er war ein Ungehorsamer, er glaubte nicht unhinterfragt, was er zu hören bekam. Und sich selbst wohl auch immer nur in der Gegenwart. Wenn man auf der Spur bleibt, kann man morgen ganz andere Erkenntnisse erlangen, die die Wahrheit von heute in eine andere transformiert. Die Bereitschaft, sich selbst nicht zu widersprechen, ist ihm – der phasenweise als Fundamentalist abgestempelt wurde – zeitlebens fremdgeblieben, dazu reicht ein Horchen an seiner Aufführungsevolution oder ein Vergleich von früheren und späteren Aufnahmen gleicher Werke. Freilich wäre Ungehorsam alleine viel zu wenig, dazu kommt eine Begabung, aber noch viel mehr ein unablässiger Drang zu arbeiten, sich weiter zu entwickeln, um neue Einsichten und Perspektiven zu erlangen.

Ich könnte unzählige außergewöhnliche Musikerlebnisse aufzählen, die ich durch Harnoncourt erfahren durfte und nenne jetzt nur eine „letzte“ Fünfte Beethoven mit den Berliner Philharmonikern. Ein Stück, das ich so gut zu kennen glaubte, offenbarte, nein, entpuppte er in einer erschütternden, abgründigen Wucht, die ich nie zuvor gehört habe. In der Kunst geht es eben nicht nur ums Wohlfühlen, es ist ein ungesichertes Territorium, das (uns) in Frage stellt, solche aufwirft, uns an einen fantastischen Ort führt, an dem der „Mensch einfach Mensch“ ist, wie Nikolaus Harnoncourt es einmal ausgedrückt hat.

Als sehr junger Mensch habe ich ihm einen Brief geschrieben. Einige Fragen, die gar nicht unbedingt musikalischer, sondern gesellschaftlicher Natur waren, haben mich bewegt und wollten gestellt werden. Es war völlig klar für mich, dass Nikolaus Harnoncourt der Mensch war, der mir Antworten geben konnte. Früh hat er sich in mir als allumfassende Instanz etabliert. Meinen Brief beantwortete in seinem Auftrag seine Frau Alice, durch die er ausrichten ließ, ich stelle schon die richtigen Fragen. Keine Antworten – aber was für eine Ermunterung, weiter Fragen zu stellen.

Ein Ewigdringlicher, der immer wieder die fantastischen Orte eingemahnt hat, wo wir Mensch sein können, Fragen stellen, lebendig sind und staunen an der Natur der Welt und ihren Kunstwerken.