Rede zur Sicherung der Unruhe

Alle Männer aufstehen!“, rief unsere jüngere, dreijährige Tochter am frühen Morgen vor einiger Zeit. Klare Ansage, von der ich mich eindeutig angesprochen gefühlt habe. – Dabei hatte ich auch keinen Interpretationsspielraum, denn ich bin der einzige Mann in unserer vierköpfigen Familie. Ich denke oft an ihre Ansage, auch gerade jetzt, wo wir hier versammelt sind, um unsere Stimmen zu erheben, wo ich hier stimmerhebend das Wort ergreifen darf. Schön, dass wir alle da sind! Deutsch ist eine wunderbare Sprache, wir erheben die Stimme, Stimmen sind zum Erheben gedacht, nicht zum Versenken. An der Stimme liegt die Stimmung. Das Erheben von Stimmen erzeugt Stimmung, eine solche oder andere. Und die Stimme erheben heißt in 8 Tagen die Stimme abgeben. Ja, man kann die Stimme erheben, in dem man sie abgibt und wir verbreiten eine Stimmung — eine solche und keine andere. Ich frage mich, wann und wie fühle ich mich so eindeutig und unentrinnbar angesprochen, wie es meine Tochter spielerisch vermocht hat. — Und noch viel öfter frage ich mich, wie fühlen sich Menschen angesprochen, die sich in ganz anderen Resonanzräumen und Echokammern aufhalten, von deren Beschaffenheit ich oft gar nichts weiß oder die mir so fremd sind, dass ich davon gar nichts wissen will.

Das eben erst vergangene Ars Electronica Festival hatte das Motto „Out of the box“, unser Bundespräsident hat dies bei seiner Rede zur Eröffnung des Brucknerfestes mit „Raus aus der Blase“ übersetzt, diese Ausdeutung fand ich grandios. — Die, die wir hier und heute versammelt sind, haben uns längst über vieles stillschweigend verständigt, in erster Linie in dem, dass wir für etwas, für alle, für Menschlichkeit, für ein Miteinander stehen und gehen. Wir sind dafür! Für mein Dafürhalten, ist es ein Dafürsein, das nicht im Dagegensein entsteht. Klar, wenn ich gegen etwas bin, bin ich gleichzeitig für etwas, und umgekehrt. Unser Dafürsein braucht nicht gleich ein Dagegensein, aber Widerstand und klare Grenzen, was eben nicht geht, wenn man dafür lebt. Wir haben uns darüber verständigt, nicht gegen was wir sind, über Unmenschlichkeit brauchen wir nicht verhandeln! Im Verständigen steckt verstehen, um etwas zu verstehen, muss man sich nicht selten dazu setzen, sich auseinandersetzen. Das klingt alles recht anstrengend und ist doch leichter als man mitunter glaubt, aber mit Sicherheit nicht so leicht, wie uns gar nicht so wenige glauben machen wollen. Einfachen ganz sicheren Lösungen dürfen wir beunruhigt und mutig misstrauen, diese reden auch meist mit an Grenzen gehender Sicherheit von Sicherheit und Sicherheit und Sicherheit in einem der sichersten Länder dieser Erde. — Uns reicht’s, sagen wir, und es reicht als Feststellung, um hier Miteinander zu sein, einander gewiss zu sein, das Wunder der Gemeinschaft zu erfahren und gemeinsam sicht-, hör- und spürbar zu sein. Es ist eine Ermutigung, und darin steckt der Mut, den es manchmal braucht, um aufzustehen, wenn es ihn braucht, um als Mensch fürs Menschliche einzutreten.

Doch reicht’s, frage ich? Wie bewahren wir die Unruhe, beanspruchen wir die Verantwortung über unsere Freiheit, fordern soziale Gerechtigkeit, Respekt, Toleranz. Toleranz ist by the way eine Transittugend. Toleranz verlangt von uns vorerst zu dulden, was uns widerstrebt. Und Duldung kann nur ein Zwischenzustand sein, hin zum wirklichen Nahewerden, oder eben auch zum Fernbleiben. Wie erweitern wir unsere Blasen? Was akzeptieren wir, wo leisten wir Widerstand? Viele Fragen und längst nicht alle. Aber eines scheint mir gewiss, solange wir sie stellen, immer wieder laut, hörbar, miteinander stellen, solange ist die Unruhe des Menschseins, man könnte Lebendigkeit sagen, gewährleistet, wenn auch nicht sicher.

Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“, schreibt ausgerechnet der als Hans Mayer in Wien geborene Schriftsteller, Essayist, Widerstandskämpfer Jean Améry, der Frage nachsinnend: Wieviel Heimat braucht der Mensch? Man muss keine Heimat haben, um sie nötig zu haben, heißt es im logischen Umkehrschluss. Alles Fremde ist im Moment der Berührung gleich gar nicht mehr so fremd wie zuvor. — Faszinierend in diesem Zusammenhang ist es, ein Orchester als funktionierendes Gesellschaftsmodell zu betrachten. In meinem Orchester, das mir nicht gehört, aber dem ich angehöre, ohne darin zu spielen, im Bruckner Orchester Linz spielen tagtäglich 120 Menschen aus weit mehr als 20 Nationen zusammen. Unterschiedliche Muttersprachen, Herkünfte, Orientierungen, Einstellungen oder sonstwas spielen beim Spielen überhaupt keine Rolle. Es geht einzig um das Schaffen, um das Bemühen um ein Ereignis, um das Ereignen eines Kunstwerks, das natürlich eine gemeinsame Suche in den Partituren bedingt. Diese gemeinsame Suche lässt dabei einen unverwechselbaren Dialekt, eine gemeinsame klingende Identität finden, die wiedererkennbar ist. Es ist einfach eine gemeinsame Ausrufung, dem Versuch der Schaffung eines gemeinsamen Ereignisses für Spielende und Hörende, dem man folgt, sich einzubringen, sich ins Spiel zu bringen. Dieses Beispiel ist vielleicht nicht ganz auf eine Gesellschaft umlegbar. Und doch, es geht um eine gelebte Kultur des offenen Miteinanders, so eine Kultur gibt uns bei aller Wandelbarkeit festen Grund, klare Ausgangspunkte zum Aufbrechen ins Offene, vielleicht Heimat. Ich weiß nicht, was es bedeuten soll, aber hören wir nicht auf, danach zu fragen und vor allem zuzuhören. Im Hören ge-hören wir zueinander.

Und weil ich gerade vom Spielen geredet habe, möchte ich abschließend noch eine Ansage meiner jüngeren Tochter ins Spiel bringen, die sie erst vor wenigen Wochen getätigt hat: „Papa, wenn ich erwachsen bin, dann gehe ich alleine auf den Spielplatz.“ Ich finde das ganz großartig! Der Spielplatz als Urort menschlichen Seins, der frei von irgendeiner Verwertungslogik ist, der Spielplatz als Ort kultureller Vielfalt, der Spielplatz als Ort der Lust und Freude, der Spielplatz als Ort für das Unerwartete, das Spielerische, das Gemeinsame, als Ort des zufällig oder absichtlich ins Gespräch kommen, ein Ort des Staunens und der Begegnung, als Ort fürs Miteinander. In diesem Sinne werden wir endlich alle immer wieder erwachsen und treffen uns so oft wie möglich genau dort, beanspruchen diesen Für-Ort, dieses offene Territorium eines Spielplatzes an vielen Orten für alle, für alle, für alle Menschen. – Und tun unendlich viel dafür, die Unruhe zu sichern, dieses Sicherheitsbedürfnis sollten wir uns wirklich leisten.

In Walter Helmut Fritz’ Gedicht „Die Zuverlässigkeit der Unruhe“ aus dem Jahre 1966 heißt es:

Nicht einwilligen./ Damit uns eine Hoffnung bleibt.
Mit den Dämonen/ rechnen.
Die Ausdauer bitten,/ sie möge mit uns leben.
Die Zuverlässigkeit der Unruhe/ nicht vergessen.

Norbert Trawöger, Steyr am 21. September 2019