Von der Zuverlässigkeit der Unruhe

Kunstrede von Norbert Trawöger zur Eröffnung des Festivals Perspektiven // Attersee am 11 . Juli 2015

Besonders in unseren Tagen mache ich mir immer wieder bewusst, welch Glück es ist, in diesem unseren, wunderschönen Land leben zu dürfen, liebe Menschen, die ich hier und heute gar nicht respektlos unter meinem Hut ansprechen darf, vorausgesetzt sie fühlen sich angesprochen, was natürlich ganz Ihnen überlassen ist. Wer einen ärgert, bestimmen wir selbst, um ein Wort von Winston Churchill zu strapazieren. Welch Glück ist es, hier leben zu dürfen: Friede, Freiheit, mehr oder weniger viel Wohlstand und Wohlergehen, nicht weniger selbstverständliche Möglichkeiten oder mögliche Selbstverständlichkeiten nehmen wir hin als ob es gar nicht anders sein könnte und dürfte.

Ich muss Ihnen sagen, dass ich absolut gar nichts dafür geleistet habe, hier geboren worden zu sein und hier obendrein noch behütet vor vielem leben zu dürfen. Ist es Gnade, Zufall, Glück oder Eltern, die einen hier auf die Erde gebracht haben, was zu allererst nur die Mütter aushalten mussten und müssen. Wenn ich darüber nachdenke und ich zwinge mich immer wieder dazu, merke ich schnell wie privilegiert ich bin, wir sind. Eine nüchterne Tatsache, die dazu anstiften kann, hin und wieder zumindest dankbar zu sein, wenn schon nicht gleich glücklich – und gelegentlich demütig. Ich weiß Demut, die große Schwester der Verantwortung, ist gerade nicht besonders in. Wir sind mit anderen Dingen beschäftigt, zum Beispiel uns die Dinge wieder beim Namen nennen zu lassen. Solche Wahrheiten sind uns gerade noch zumutbar und entbinden uns der menschlichen Fähigkeit, übrigens ein Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens, selbst denken zu können: die unzähligen Möglichkeiten des Nachdenkens und Vordenkens und Jetzt-Denkens. Es ist ein menschliches Vermögen, das Denkvermögen, an das wir zu oft nicht denken, was umgehend Dämonen bzw. Dämonisierer mobilisiert und verlangt, die einem sagen wo es lang geht, was gut und richtig ist und wie die Dinge eben beim Namen heißen.

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort, schrieb der alte Rilke. Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Wir sprechen wieder alles so deutlich aus, das macht mir zunehmend Angst muss ich hier und heute und ehrlich bekennen. Wir sprechen wieder alles so deutlich aus, weil wir die einzig zumutbare Wahrheit zu kennen glauben, oder es wird uns Glauben gemacht, was vertraut und vor allem was fremd ist und damit hier keinen Platz haben kann. Denn das Fremde gehört in die Fremde und das Heimische in die Heimat, liebe große Töchter und Söhne, die wir nun einmal alle sind. Wie schon gesagt, ich habe absolut keine Ahnung, warum ich hier in diesem gesegnetem Land leben darf, in dem ich zufällig auch geboren wurde. Haben Sie etwas dafür geleistet, sich dies so einfach leisten zu können? Warum sind wir dann oft so sicher, oder lassen uns in dieser Sicherheit von hemmungslosen Laut-Sprechern versichern.

Sicherheitsthemen sind die Themen unserer Zeit, unserer Gesellschaft, die dann naturgemäss hinten und vorne, oben und unten überwacht werden müssen. Das geben wir also auch noch an eine über-geordnete Instanz ab und aus einem lebendigen Wachsein wird schnell ein rundum Überwachtsein. Gutes Gefühl, ganz zweifelsfrei, nicht alles selbst machen zu müssen, auch etwas abgeben zu können. Ohne Zweifel. Ohne Zweifel? Wer daran zweifelt, steht im Verdacht selber gedacht zu haben. Haben wir vergessen, dass der gute alte Zweifel an sich, die Unsicherheiten eigentlich Grundbedingungen für Lebendigkeit sind.
Sollte man mir nicht langsam einen Ordnungsruf erteilen, ich habe hier die Aufgabe ein Kunstfestival zu eröffnen und stelle mir selbst laut und damit zwangsläufig auch Ihnen nicht unbedingt nur angenehme Fragen.

Erinnern wir uns an die Möglichkeit, dass wir nicht in alles und jedes einwilligen müssen. Nicht in dem Sinn, wie es Otto M. Zykan auf den Punkt gebracht hat, warum nicht wollen, dass andere sollen. Aber da sind wir allesamt verdammt gut darin, auch wenn dabei unsere eigene Stimmung langfristig ins begründet Bodenlose fällt, wie ich so einfach jetzt einmal behaupte, da ich es nicht selten beobachtet habe, an mir und um mich. Warum sind wir im Moment so wenig ins andere und eigene Gelingen verliebt? Und wissen so genau, wogegen wir sind, wir sein müssen, gegen das Unbekannte, das Fremde, die Fremden, die hier aus Lust und Laune in unser Land verschleppt werden, weil es so schön ist.

Stimmt doch, es ist wunderschön und neben dem Denken haben wir Menschen mindestens noch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal, das der Empathie, des Mitfühlens, des Fühlens an sich. Wir sind nur Mensch unter und mit Menschen, dazu brauchen wir eigentlich keine Beweisführung für die Neuronenbefeuerung im menschlichen Gehirn, oder? Ist es nicht höchst an der Zeit die Stimmung wieder zu heben, in dem wir alle unsere Stimme erheben, um dafür zu sein und nicht dagegen. Ich bin dafür, dass wir uns regelmässig zum Staunen verpflichten, Gründe dafür genug gibt es genug. Sehen wir hören wir uns um und trauen wir unseren eigenen Augen, Ohren und Atemzügen. Machen wir uns wieder bereit, in jedem Moment Gänsehaut bekommen zu können? Sie überfällt uns sowieso meist unvermutet und beschert uns einen Zustand jenseits der Sicherheitszone oder des Planbaren. Einen Zustand, der bereit und verletzlich sein muss, um ins Unbekannte, Fremde, Andere aufzubrechen, es überhaupt zuzulassen. Es mag einen endlichen Reichtum des wunderbar Kalkulierten geben, der unendliche Reichtum liegt aber im Unvorstellbaren, im Ungreifbaren, im Fantastischen, dort wo der Mensch einfach Mensch ist, um es ganz präzise zu benennen, was wir ohnehin nicht zu bezeichnen vermögen, da es ein grenzenloses Territorium ist. Wir vermögen unheimlich viel, wenn wir es mögen. Begeistern wir uns wieder für die guten Zeitgeister, die es nicht so genau wissen, aber noch ahnen, dass wir Menschen zu ungeahnt Schönem und Unvorstellbarem fähig sind, wie eine Symphonie, einem Tanz, einem Bauwerk, einem Lächeln oder oder oder zu einer fundamental schlichten Berührung, die unter die Haut geht. Wir könnten wieder mehr in Anspruch nehmen, für etwas aus der Haut zu fahren, ganz einfach damit wir offen dafür bleiben, dass uns jemand oder etwas unter die Haut gehen kann.

In dieser Selbstsüchtigkeit könnten wir uns viel unbändiger einüben. Bleiben wir unruhig, im Sinne einer lebensnotwendigen Unruhe, der Unruh des Herzschlags, um wach und lebendig zu bleiben, um Erfahrungen des Nicht Vorstellbaren machen zu können, in der Fremde, in der Heimat mit Fremden und Bekannten. Wir brauchen nicht zu allem Ja sagen, aber können Ausdauer im Dafürsein beweisen und dürfen uns der Zuverlässigkeit der Unruhe ganz sicher sein, wie es Walter Fritz in seinem gleichnamigen Gedicht so unheimlich treffend auf eben nicht einen Punkt gebracht hat

Nicht einwilligen./ Damit uns eine Hoffnung bleibt.
Mit den Dämonen/ rechnen.
Die Ausdauer bitten,/ sie möge mit uns leben.
Die Zuverlässigkeit der Unruhe/ nicht vergessen.

Achten wir die Kraft des Zweifels, erhalten wir uns die Möglichkeit des Nicht-Einwilligen in die kolportierten, ortsüblichen Ist-Zustände. Bleiben wir unruhig, Zweifeln am allzu Gesicherten und neugierig auf das Unbekannte und Fremde, wie es für jedes Kind völlig normal ist. Diese Bewegung ist nicht nur Grundbedingung für künstlerisches Schaffen oder eine offene Kultur, wie es hier in und am Attersee schon jahrelang Perspektiven aufreißt, sondern nicht zuletzt für unser Menschsein selbst, das niemals erst an letzter Stelle in Erscheinung treten darf.

Bleiben wir auf der Hut auf die Zuverlässigkeit der Unruhe nicht zu vernachlässigen!

Norbert Trawöger, 11. Juli 2015